Pudding am Siebten (UA)

Theaterstück von
Philipp J. Neumann

Auftragsarbeit für das
theater fact Leipzig

Infos zur Inszenierung

Auszug aus dem 3. Teil von Pudding am Siebten

ANNEMIE

Sie schaut mich an. Er lacht. Sie schluckt und schaut nur mich an. Sie krümmt sich, zuckt, sie krampft. Seine Augen sind ganz naß. Die Tränen laufen ihm über die Wange. Er hebt seinen rechten Arm schnell nach oben und wischt das Wasser mit dem Zeigefinger, langsam. Er reibt die Träne zwischen seinen Fingern, er hält sie. Er setzt sich zu uns, hält die Träne zwischen Daumen und dem Zeigefinger, er setzt sich und streckt die Hand aus. Er berührt ihre Haut, ihre Wange, ihr Gesicht. Er legt die Träne auf ihre Stirn. Er reibt sein Wasser in ihre Haut. Sie schaut nur mich an. – Barbara.

Die Erinnerungen verschwimmen, vermischen sich. Sie steht auf.

Wir laufen über die Weite. diese weite Straße. Der Morgenwind ist kühl, oder auch nur der weiße Stoff so zart. Martin hält meine Hände. Das Sonnenlicht verwirrt zwischen den Ästen. Es ist so weiß. Mir wird wärmer. Die Freude wärmt mich. Langsam. Wir laufen langsam. Zeit ist bedeutungslos. Die anderen folgen in den Wagen. Sie folgen uns, sind hinter uns ganz nah. Und doch sind sie nicht wirklich. Martins schwarzer Stoff fliegt im Wind, einmal nimmt der ihm den Hut. Ich lache. Die Straße ist endlos – weit –

– entfernt ist der Sturm. Den ganzen Tag schon stürmt es. Wir sitzen auf dem Boden, das Licht flackert, erlischt. Es ist dunkel und du stehst schnell auf, holst Kerzen. Ursula liegt in meinem Schoß, sie schläft, Barbara umringt mich; ihre Knie stechen in meinen Rücken, ihre Hände greifen meine Arme, fest, ihre Augen sind müde, aber offen. Offen vor Furcht. Du kommst, stellst die Kerzen auf, zündest sie an. Vor der Hütte windet sich das Wetter. Du nimmst Ursula. Du hältst sie hoch, läßt sie fallen, fängst sie über dem Boden. Sie lacht. Du wiederholst es. Sie lacht nochmal. Ich lache – als –

– du mich drehst. Deine Augen glänzen vom farbigen Licht, du drehst mich, das Haar weht mir über die Lippen, du streichst es fort. Du drehst mich wieder und wieder, die Musik ist schnell und ich lache. – Ich – weine. Die Musik ist niederdrückend. Schwermütig. So traurig schön. Sie singt leise, kaum zu hören, ganz oben und schwach und kraftvoll. Ich kann den Blick nicht abwenden, alles ist verhüllt, nur sie neigt sich in der Mitte, über ihn und ich kann ihre Stimme kaum noch hören. Mein Arm zuckt zweimal, ich schaue zu dir hinüber und – sehe wie du dich über sie – beugst. Deine Mutter hält deine Hüfte. Ich gehe zu euch, das Paket in den Händen, ich gehe zu euch, du sagst nochmal, noch einmal, noch eine und hebst die Hand zur Zahl. Ich –

Langsam beginnt wieder die Musik, erst leise, dann immer lauter, bis sie die schneller sprechende Annemie übertönt. Langsam geht auch das Licht aus und die Fernseher an.

– schaue auf deine Finger, wie sie sanft über schwarz und weiß fliegen, wie sie zart die Tasten drücken, fest und laut und leise, dein Knie hebt und senkt sich, ich schlage die Seiten, lege meine Hand leicht auf deine, die sie mitnimmt – und – laufe neben dem Zug, du hebst mich und küßt mich, ich falle, beinahe, du fährst und ich habe ein Papier in der Abschiedshand, der Fahrtwind, er faßt es, reißt es fort, ich renne, Barbara klatscht in die Hände, Ursula schreit, ich renne und Martin –

Sie ist mit den letzten Sätzen in der Mitte stehengeblieben und von der Musik übertönt worden. Sie schweigt mit dem Namen abrupt. Die Fernseher fahren rechts und links neben ihr vorbei auf das Publikum zu, dort bleiben sie genau hinter der Gazewand stehen und zeigen Bilder von Mädchen (zwischen 3 und 12 Jahren).

Eine Zeitlang sind nur die Bilder zu sehen und die Musik zu hören. Die Gesichter der Kinder. Die restliche Bühne ist dunkel.

„Philipp J. Neumann schrieb und inszeniert von einer Frau, die aus dem Totenreich zurückkommt, um ihre Schuld und Verzweiflung zu verarbeiten. […] Genial ist der stets präsente Kontrast zwischen Schatten und Licht.“ 

Leipziger Volkszeitung, Oktober 2002

„Wir erleben Mosaiksteine ihres Denkens und Fühlens auf einer Klaviatur von Stimmungen und Reflexionen.“

Zeitpunkt, April 2003